Dissertation von Kathrin Bereiter
FH OÖ Campus Linz
Im österreichischen Justizsystem werden Personen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung gegen geltendes Recht verstoßen haben, in speziellen forensisch-therapeutischen Zentren auf unbestimmte Zeit untergebracht und betreut. Frauen sind in diesem System eine statistische Minderheit, was die Lebensrealität der Betroffenen auf unterschiedliche Weise beeinflusst. Es wird theoretisch davon ausgegangen, dass sich der Maßnahmenvollzug als Mikrokosmos der Gesellschaft, anhand intersektionaler Differenzkategorien, wie bspw. Gender, Rasse* und Klasse strukturiert, die in Folge Herrschaftsverhältnisse, wie u.a. Rassismen, (Cis)Sexismen und Klassismen erzeugen. Mit Blick darauf werden in dieser Studie mittels qualitativer Methoden die intersektionalen Lebensbedingungen und Herrschaftsverhältnisse, in welchen sich Frauen im Maßnahmenvollzug bewegen müssen, erforscht. Da die Daten (narrativ biografische Interviews mit Maßnahmenklientinnen) mit der intersektionalen Mehrebenenanalyse nach Winker und Degele (2009) ausgewertet wurden, wird ermöglicht, die Wirkmacht sozialer Differenzkategorien auf und zwischen den drei Ebenen der Identität, der symbolischen Repräsentation/Diskurse und der Ebene der gesellschaftlichen Strukturen zu erfassen. Die Ergebnisse zeigen, dass insbesondere hegemoniale und neoliberale Vorstellungen von Gender, Rasse* und Körper normierend auf die Frauen wirken und sich zudem in den Strukturen des Maßnahmenvollzugs materialisieren. Diese intersektionalen Lebensbedingungen und Herrschaftsverhältnisse beeinflussen in Folge das individuelle Handeln der interviewten Frauen im Maßnahmenvollzug. Dennoch werden ihre sozialen Praxen durch diese nicht determiniert, denn sie entwickeln Selbstermächtigungsstrategien, um handlungsfähige Subjekte zu bleiben. Diese Strategien zeigen sich in zwei unterschiedlichen Formen, und zwar in Gestalt der Kämpfenden und der Angepassten. Die Selbstermächtigungsstrategien der Kämpfenden lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass die Verhältnisse und die strukturellen Vorgaben im System Maßnahmenvollzug nicht widerspruchslos akzeptiert werden, sondern punktuell danach gestrebt wird, diese zu verändern. Die Strategie der Anpassung charakterisiert sich hingegen dadurch, dass versucht wird, sich an die Bedingungen im System anzupassen und diese zu akzeptieren. Aufgrund der Tatsache, dass die Dauer der Anhaltung auf unbestimmte Zeit verlängert werden kann, wählt der überwiegende Teil der Frauen schlussendlich die Strategie der Anpassung, denn diese kann potenziell ermöglichen, die Freiheit wiederzuerlangen.
Innovativ und spannend ist an meiner Dissertation...
dass die Lebensbedingungen von Frauen im System Maßnahmenvollzug bisher kaum bis gar nicht aus Sicht der Betroffenen beleuchtet wurden. Daher bietet meine Dissertation einen interessanten Einblick in ein System, welches den meisten Menschen in Österreich verborgen bleibt.
Ein überraschender Fakt, der mir bei der Recherche untergekommen ist...
dass die betroffenen Frauen im Zuge der narrativ biografischen Interviews sehr offen und ausführlich von ihrem Leben vor und im Maßnahmenvollzug, ihrem strafrechtlichen Delikt und ihrer psychiatrischen Erkrankungen gesprochen haben. An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei den Interviewpartnerinnen für ihre Offenheit und Bereitschaft bedanken.
Besonders stolz bin ich bei meiner Arbeit...
dass es mir gelungen ist, die interviewten Frauen punktuell in die Analyse miteinzubeziehen, ihre Einwände ernst zu nehmen und sie nicht sozusagen als Forschungsobjekte für meinen Erkenntnisgewinn zu benutzen.
An meinem Forschungsgebiet mag ich...
dass der Maßnahmenvollzug ein Kontext ist, der ansonsten hauptsächlich durch negative, reißerische Schlagzeilen in den Fokus der Öffentlichkeit gerät. Insbesondere durch qualitative Forschung gelingt jedoch ein umfassender Blick in diese totalen Institutionen und in die Lebensbedingungen, welche die inhaftieren Personen dort vorfinden. Dabei werden sie abseits einer medialen „Täterinnen – Opfer – Logik“ als handlungsfähige Subjekte sichtbar, die sich in diesen Bedingungen bewegen und ihre individuellen Möglichkeitsräume gestalten.
Dr. phil. Kathrin Bereiter BA MA
Assistenzprofessorin für psychosoziale Kompetenz
Bachelor- und Masterstudium der Sozialen Arbeit an der FH OÖ, Campus Linz
Praxis als Sozialarbeiterin u.a. im Migrationsbereich und in der forensischen Sozialen Arbeit
Doktorratsstudium der Erziehungswissenschaften im Fach Sozialpädagogik an der Universität Graz „Frauen im österreichischen Maßnahmenvollzug. Eine intersektionale Mehrebenenanalyse der Lebensbedingungen und Selbstermächtigungsstrategien psychisch kranker Straftäterinnen“, Betreuerinnen: Annette Sprung (Universität Graz), Petra Wagner (FH OÖ)
Die Dissertation von Kathrin Bereiter erscheint am 10.12.2024 im Springer VS Verlag.